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Kerstin Westerbeck - Joanna im freien Fall


Ich habe mich in den letzten Wochen für viele Leserunden auf lovelybooks bewor-ben, habe das ein oder andere Buch gewonnen, bin aber auch leer ausge-gangen. Bei Joanna im freien Fall von Autorin Kerstin Westerbeck hatte ich eigentlich auch kein Glück, aber dann sah ich in meinem Postkasten eine freundliche Nachricht. Frau Westerbeck mochte meine bisherigen Rezensionen so sehr, dass sie mir ebenfalls ein Exemplar ihres Romanes zukommen lassen wollte. Und da sagt man als begeisterte Leseratte natürlich nicht nein – und das, obwohl Gesellschaftsdramen eigentlich gar nicht in meine sonstige Genreauswahl fallen. Aber eine solche Chance lässt man sich natürlich nicht entgehen und ich hoffe doch zutiefst, dass Frau Westerbeck nicht enttäuscht sein wird.


Joanna Hochmuth ist der neue aufstrebende Stern in der deutschen Architekturbranche. Als Tochter des wohl berühmtesten Architekten Frankfurts, August Hochmuth, stehen ihr alle Türen offen. Sie ist erfolgreich, sie ist begehrt. Und trotzdem entscheidet sie sich vom neuen, noch nicht ganz fertiggestellten Gebäude ihres Vaters aus 132 Metern Höhe in den Tod zu springen.

Blöd nur, dass sie plötzlich im Körper von Anna Gerlach aufwacht, einer Frau, die ihrem wahren ich nicht unterschiedlicher sein könnte. Anna wohnt in einem Dorf etwas abseits von Frankfurt, führt ein etwas spiesiges Leben, arbeitet in einem Bio-Laden, ist verheiratet – und Joanna sieht sich mit mächtigen Problemen konfrontiert, denn dieses normale Leben ist für sie alles andere als gewohnt.

Während Joanna beginnt, sich langsam in das Leben der Anna zu fügen, stellt der freie Blogger Leo Nachforschungen über Joanna Hochmuths Selbstmord an. Als Anna dies mitbekommt, sieht sie in ihm eine Chance, den Umständen ihres neuen Lebens auf den Grund zu kommen.


Mit diesem Buch habe ich mich in für mich völlig trübe Gewässer begeben. Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich (freiwillig) mal einen Roman dieser Art gelesen hätte. Sicher, damals hatten wir ständig Gesellschaftsdramen als Pflichtlektüre, aber seien wir doch mal ehrlich: wer hat Schullektüre wirklich gerne gelesen?

Bei der Geschichte um Joanna und Anna allerdings, habe ich sehr schnell einen Draht gefunden und konnte mich in einer unglaublichen Geschwin-digkeit in die Szenerie hineinversetzen, wie ich es bislang erst selten erlebt habe. Vor allem der wirklich coole Auftakt, der in Joannas Selbstmord gipfelt, hat einen sehr interessanten, experimentellen, aber dadurch eben im Gedächtnis bleibenden Stil. Da hat es mich auch nicht gestört, dass man nach eben diesem Auftakt das Tempo erst einmal gedrosselt hat, um (Jo)Anna in ihrem neuen Leben willkommen zu heißen.

Im Laufe der Geschichten lernt man die wichtigsten Menschen in Annas Leben kennen, wobei es Frau Westerbeck hier gelingt, den Charakteren allesamt in kurzer Zeit viel Leben einzuhauchen und es immer wieder schafft, neue Facetten in deren Eigenarten unterzubringen. Besonders interessant und lobenswert finde ich übrigens, dass jeder einzelne Charak-ter, der eine bedeutendere Rolle spielt, im Laufe der Geschichte eine spürbare Wandlung durchzieht. Charaktere, die anfänglich unsympathisch oder nervig erschienen sind, sind mir ans Herz gewachsen, andere, die am Anfang nett gewesen sind, haben bald schon tiefe Abgründe aufgezeigt. Letzten Endes aber hat es keinen Handlungsträger gegeben, dem ich abgeneigt gewesen bin. Alle haben sich irgendwie in mein Herz geschlichen. Vor allem Leo.


Die Erzählweise des Buches hat mir sehr gefallen. Wir haben zwei Perspektiven, zum einen die direkte Erzählung Joannas als Ich-Erzähler, zum anderen Leos Beiwerk in der Form eines ihn begleitenden Erzählers. Normalerweise hasse ich es, wenn man zwischen Ich- und Er-Erzähler hin- und herspringt, aber in diesem Buch hat es gut gepasst. Ein zweiter Ich-Erzähler wäre hier zu viel und vielleicht sogar zu verwirrend gewesen. Wobei ich es gegen Ende schon ein wenig merkwürdig fand, als (Jo)Anna und Leo in Kontakt getreten sind.

Die Entwicklung des Romans ist wohl eine der größten Stärken der Geschichte. Nach Joannas Selbstmord wird man mit ihr zusammen in eine völlig neue und unbekannte Umgebung geworfen. Sie weiß genauso viel über ihre neue Familie, wie wir als Leser und so lernen wir Annas Leben auf dieselbe Weise kennen, wie Joanna selbst. Wir lernen ihre Schwiegereltern und ihren Ehemann kennen, ihre Arbeitskollegin, ihren Arbeitsplatz. Nach und nach wirft Frau Westerbeck dem Leser ein paar Brotkrumen zu, die Licht ins Dunkel bringen und nach und nach die Umstände von Joannas Tod erläutern. Dabei gelingt es ihr, immer wieder Spannung aufzubauen, ohne dabei zu viel zu verraten (auch wenn ich zugeben muss, dass ich fast alle Höhepunkte der Geschichte bereits etliche Kapitel zuvor richtig voraus-gesagt habe, aber das habe ich sogar als befriedigend, nicht als störend empfunden). Lustig finde ich es übrigens, dass wir in Leos Kapiteln mehr über Joanna erfahren, als in ihren eigenen Kapiteln. Aber das nur als kleine Anmerkung.


Als ich die letzte Seite umgeschlagen habe, habe ich mich leider ein wenig im Regen stehengelassen gefühlt. Nicht falsch verstehen, das Ende ist gar nicht mal verkehrt, die meisten Fragen wurden geklärt und die, die offen stehengeblieben sind, dienen der eigenen Interpretation. Dennoch habe ich das Gefühl gehabt, dass das Ende einfach unvollständig gewesen ist, fast so, als wollte Frau Westerbeck zeigen, dass das Leben eben keine perfekten Geschichten schreibt.

Die Zusammenhänge zwischen Annas und Joannas Leben habe ich leider als etwas sehr an den Haaren herbeigezogen empfunden. Vielleicht liegt es daran, dass auf den Umstand nur wenig eingegangen worden ist, ich für meinen Teil habe es leider als etwas hahnebüchen und unspektakulär abgelegt. Nach all der Spannung, die das Buch aufgebaut hat, ist mir die Auflösung einfach viel zu banal und uninspiriert vorgekommen, dass es mir leider die letzten – na ja, circa – 50 Seiten irgendwie verdorben hat.


Joanna im freien Fall lässt sich genretechnisch schwer in eine Schublade packen. Es ist ein Drama mit jeder Menge Gesellschaftskritik, es ist Slice of Life, es ist ein klein wenig Entwicklungsroman, hat Anflüge eines Ermittlungsthrillers und auch einen kleinen Hauch von Fantasy. Und trotz-dem besitzt das Buch zu Teilen einen so lockeren und heiteren Ton, dass es einen zum Schmunzeln oder Lachen bringen kann. Es bietet viel Raum für Interpretationen, vor allem, was das neue Leben und vor allem den Wandel von Joanna in Annas Körper anbelangt. Wie viel Joanna steckt in Annas Kopf, wie viel Anna schwingt in Joannas Herzen. Wie das Buch auf dem Klappentext schon andeutet, experimentiert das Buch mit den Grenzen des Ich – eine durchaus gerechtfertigte Phrase.


Letzten Endes gibt es für mich eigentlich nur noch eine Frage, die es sich zu stellen lohnt: Wieso hat sich die Autorin entschieden, das Buch im Selfpublish zu veröffentlichen? Dieses Buch hat definitiv Verlagsqualität. Der Schreibstil ist locker und hochwertig, Fehler sind mir keine aufgefallen, die Geschichte ist außergewöhnlich und vielschichtig, wird nicht langweilig. Ich vermute, dass es in einer Buchhandlung sicher besser aufgehoben wäre, als bei Books-on-Demand. Aber vielleicht hat sich die Autorin etwas dabei gedacht.


Wie dem auch sei, ich habe die Geschichte trotz einiger Kritikpunkte am Ende sehr genossen und möchte ihr verdiente 4 von 5 Sternen geben!


Für mich eine klare Leseweiterempfehlung für all jene, die gerne Gesellschaftsdramen lesen, die trotzdem eine gewisse Leichtigkeit aus-strahlen, für diejenigen, die sich gerne in das Leben eines anderen hinein-versetzen und es entdecken möchten, die es lieben zu rätseln und zu spekulieren und vor allem für all jene, die sich selbst die Frage stellen, ob das, was sie im Leben haben, sie wirklich glücklich macht.


P.S.: Wer sich in Frankfurt auskennt, wird hier weniger Orientierungsschwierigkeiten haben, als ich kleiner Ossi :P

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