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Jay Asher - Tote Mädchen lügen nicht

Wo man sich auch bewegt, überall prangt einem die Werbung von Jay Ashers 'Tote Mädchen lügen nicht' entgegen. Die Netflix-Serie bricht viele Rekorde, man wird überall im Internet damit konfrontiert.

Ich muss gleich vorweg sagen, dass ich die Serie absolut schrecklich fand. Die Charaktere waren nervig, sie haben sich unlogisch und widernatürlich verhalten und die Geschichte kam einfach nicht in Fahrt.

Glücklicherweise hatte meine Freundin das Buch bereits vor der Serie gelesen und mir angeraten, das Buch ebenfalls zur Hand zu nehmen.

Nur sieben Stunden später hatte ich die knapp 300 Seiten durch.

Depressionen und Selbstmordgedanken sind ein zeitloses Thema, das aber gerade in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Umso wichtiger ist es, wie ich finde, dass man seriös und objektiv an das Thema herantritt, es weder verteufelt, noch verherrlicht.

Jay Asher gelingt dieser schmale Grat mit seinem Buch ziemlich gut.

Mit jedem Kapitel aus Hannahs Leben begann man mit ihr zu fühlen, ihren Schmerz und ihre Enttäuschung zu spüren, ihre Depressionen zu verstehen. Man spürte, wie ihr das Leben aus den Fingern glitt, wie sie versuchte dagegen anzukämpfen, wie sie sich wehrte und immer wieder versagte, bis sie schließlich auch den letzten Schritt wagte.

In keiner Szene des Buches hatte ich das Gefühl, dass sie Selbstmord pauschalisierte oder als leichten Ausweg beschrieb. Wann immer Hannah über das Thema sprach, hatte es für mich beim Lesen einen faden Beigeschmack, fast so, als würde sie einem sagen wollen, dass es nicht die perfekte Lösung ist.

Ich habe großen Respekt davor, wie Asher die Gedanken von Hannah in Szene setzt und dabei sachlich und dennoch irgendwie lebhaft bleibt. Und vor allem, wie er beweist, dass Depressionen nicht immer dadurch zu erkennen sind, dass irgendjemand nur Trübsal bläst.

Erfrischend fand ich die Inszenierung der Geschichte. Sie spielt nach Hannahs Tod, macht keine echten Zeitsprünge. Alles spielt in einer einzigen Nacht, in der Clay, der Protagonist der Geschichte, Hannahs Kasetten hört – sozusagen ihren Abschiedsbrief, in den sie sich bei jedem 'bedankt', der ihr den Weg in den Selbstmord bereitet hat -, dennoch erzählt drei Viertel der Handlung Hannah auf eben ihren Bändern. Clays Gedanken und Handlungen sind nur ein Bruchteil der Geschichte, um den Leser eine Bezugsperson zu geben, mit der er mitfiebern kann. Die einzigen 'Zeitsprünge' geschehen also in Hannahs Geschichten. Eine solche Art der Erzählung habe ich noch nie gelesen und fand sie deshalb sehr interessant.

Auch schön finde ich die Zeitlosigkeit der Geschichte. Alles findet zwischenmenschlich statt, kein Facebook, kein Instagramm. Dadurch kann selbst die ältere Generation das Buch vollends verstehen und selbst in dreißig Jahren könnte man das Buch lesen, ohne sich zu wundern, was ein Tinder ist.

So sehr ich die Geschichte auch lobe, Handwerklich hat das Buch jedoch deutliche Schwächen.

Das beginnt bereits auf der ersten Seite, die – vermutlich der Übersetzung geschuldet – vor 'Ich' geradezu trieft. Quasi 2 von 3 Sätzen beginnen mit 'Ich'. Ein sehr sehr unschöner Anfang, der mir sauer aufgestoßen ist. Glücklicherweise legt sich das ab dem zweiten Kapitel.

Ebenfalls sehr ungeschickt finde ich den ständigen Wechsel der Zeitformen, wenn Hannah erzählt hat, gerade, wenn sie von der Vergangenheit erzählt. Sie springt immer wieder locker flockig vom Präteritum ins Perfekt, also von einer vollendeten in eine unvollendete Vergangenheitsform. Klar, kann man nun sagen, das passiert uns allen beim Sprechen, weil man sich darüber keine Gedanken macht – aber für mich ist das alles eben immer noch ein Buch, da sollte es wenigstens diesbezüglich passen (auch hier sei gesagt: vielleicht waren die Übersetzer einfach nur schludrig).

Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte, ist Hannahs Art und Weise zu erzählen. Sicher, wir haben hier ein Buch vor uns und in Büchern reden Personen miteinander und die geläufigste Form, einen Dialog zu gestalten, ist die direkte Rede. Aber die meiste Zeit der Geschichte befinden wir uns ja in der direkten Rede, nämlich in der von Hannah. Sie spricht ja mit uns – bzw. mit Clay. Wieso also hat sie eine direkte Rede in ihrer direkten Rede? Vor allem so oft? Und so detaillierte Wortwahl? Könnt ihr euch daran erinnern, wann ihr das letzte Mal jemandem etwas erzählt habt und direkte Zitate der beteiligten Personen verwendet habt? Ich nicht. Zumindest nicht so oft, wie Hannah es tut. Für den Lesefluss ist die direkte Rede in Hannahs Erzählungen gewiss besser, für die Authentizität ihrer Erzählung wiederum aber nicht.

Kommen wir noch einmal auf das erste Kapitel zu sprechen. Ich fand es strategisch sehr sehr ungünstig eingebracht. Es spielt ein Tag nach dem Rest der Geschichte, so gesehen also in der Zukunft und Clay verrät dem Leser quasi schon, wer auf der letzten Seite von Hannahs Kasetten steht! Was soll das? Man will doch der ganzen Sache eigentlich entgegenfiebern!

Allgemein habe ich beim Lesen das Gefühl gehabt, dass Asher mit der Zeit die Ideen ausgegangen sind. So taucht ein Charakter zwei Mal in der Liste auf und die letzten beiden Seiten – die, die Hannah letztlich davon überzeugt haben, ihren Plan durchzuführen – sind auf popeligen zwanzig Seiten abgehandelt wurden. Ich meine – das ganze Buch baut darauf auf, zu erfahren, wer Hannah nun in den Selbstmord getrieben hat, immer wieder hat sie ja nur davon gesprochen, dass die anderen Leute 'Wegbereiter' gewesen wären. Man will herausfinden, wer auf den letzten Kassetten bedacht wird, will sie hassen, will sie mit Dolchen spicken – und dann lesen sich ihre beiden Kapitel in nicht einmal einer halben Stunde weg.

Das war … enttäuschend. Ich hätte gerne noch dreißig bis fünfzig Seiten mehr gehabt, mit denen man die Geschichte um Hannahs Peiniger vernünftig abschließen kann.

Obwohl ich jetzt doch mehr gemeckert habe, als ich es wollte, muss ich zugeben, dass ich 'Tote Mädchen lügen nicht' (Gott, wie ich den deutschen Titel hasse. Der Englische ist echt schöner) sehr genossen habe. Es ist kein sehr gutes Buch, aber definitiv ein gutes und damit lesenswert. Vor allem als Schullektüre – im Jahrgang 7 – 9 sicherlich gut aufgehoben – stelle ich es mir sehr passend vor.

Als Schullektüre: 5/5

Als gesellschaftskritischer Thriller: 3/5

(Als Serie ein klarer Daumen nach unten)

Gesamteindruck: 4/5

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